Anna

Manche wilde Frühlingspflanze
kann ein Gärtner tief verpflanzen.
Kann auch Blumen ins Wasser stecken,
und sie werden bald verwelken.

»Entschuldigung, Gunzenhausen.« Anna sieht mich hoffnungsvoll an und zeigt in die Richtung der Bahngleise.

Ich bin etwas verwirrt, weil ich den Ort, den sie sucht, nicht kenne, und mir überlege, wie ich ihr helfen kann.

»Gunzenhausen.«, wiederholt sie nochmal.

Die Bahnsteigtreppe steigt eine andere Frau hoch. Anna hat inzwischen verstanden, dass mit mir nichts zu gewinnen ist, und wechselt zu dieser Frau, die sie auf die Anzeigetafel über dem Gleis verweist, und sagt, dass es der Zug sei, den sie nehmen wolle. Aber der Zug kommt erst in 40 Minuten. Anna versucht der Frau etwas zu erklären. Ich höre einige russiche Wörter, die sie versehentlich in deutsche Sätze einbaut. Vielleicht kann ich mit ihr Russisch sprechen und herausfinden, was sie genau sucht. Das mache ich auch. Sie sieht, dass ich mein Handy in der Hand habe, weil ich kurz davor nachgesehen habe, welche Verbindungen es noch gibt, die mich meinem Zielort näher bringen, und fragt, ob sie mein Handy nutzen darf, um eine andere Fahrmöglichkeit nach Gunzenhausen zu finden. Ich gebe ihr mein Handy und bedanke mich vor der anderen Frau, die immer noch auf dem Bahnsteig steht und uns ansieht, ohne uns zu verstehen, und sage ihr, dass ich Anna helfen werde.

»Kein Problem.«, verabschiedet sich die Frau und geht weiter.

Wir bleiben allein. Leider finden wir keine anderen Züge als den, den die Anzeigetafel ankündigt. Anna findet keine Worte, um ihren Unmut zu beschreiben:

»Oh nein, das kann doch nicht wahr sein! In Gunzenhausen wartet ein Taxi auf mich um 19:10. Mein Zug hat sich verspätet, deswegen habe ich die Anschlussverbindung verpasst, und jetzt werde ich erst eine Stunde später in Gunzenhausen ankommen als geplant. Ich hätte von dort noch weiterfahren müssen. Unglaublich!«

»Ich wollte auch diesen Zug erwischen, du würdest dann aber auf halbem Weg aussteigen und ich hätte bis zum Ende der Strecke fahren müssen. Und jetzt wird meine Heimfahrt mindestens 2 Stunden länger dauern.«, sage ich ihr mit einem müden Lächeln im Gesicht, um ihr das Gefühl zu vermitteln, dass sie nicht allein in ihrer Lage ist.

Sie erwidert mein Lächeln und gibt mir die erste Möglichkeit, sie genauer anzuschauen. Sie ist mir bereits im unterirdischen Gleisübergang aufgefallen. Ich lief hinter ihr. Sie hat ein junges, gutwilliges Gesicht, das nicht zu erkennen gibt, dass sie sich gerade Sorgen macht. Ihre hellgrünen Augen spiegeln die Stimmung dieses hellen, sonnigen und heißen Tages wider. Die blonden, lockigen Haare reichen knapp bis an ihre Schultern. Der linke, dünne Träger ihres schneeweißen Kleides ist heruntergerutscht, sodass Annas linke Schulter, ob in Eile oder mit Absicht, nackt ist.

»Man kann sich auf die Deutshce Bahn nicht verlassen, wenn man irgendwo pünktlich ankommen will. So ist es überall in Deutschland die letzten Jahre.«, setze ich fort.

»Krass, unglaublich. Was soll dieser Unfug, ich will in die Ukraine zurück.«

Wir gehen etwas weiter entlang des Bahnsteiges und entfernen uns von der Treppe. Sie beschwert sich weiter, dass sie jetzt womöglich durch einen Wald nach Hause laufen müsse, weil sie ihr Taxi verpassen werde. Ich bin auch besorgt, weil ich mir nicht mehr sicher bin, ob ich heute noch nach Hause komme.

»Du bist aus der Ukraine also?«, frage ich sicherheitshalber.

»Ja.«, bestätigt sie.

»Darf ich fragen, wie du heißt?«

»Anna.«

»Ich bin Eugen.«

»Freut mich.«

»Freut mich auch. Wie lange bist in Deutschland?«

»Seit der Krieg ausgebrochen ist. Wie lange ist das her… 2 Jahre schon. Wo kommst du her?«

»Aus Russland, aus dem hohen Norden.« sage ich, »Ich bin ein Russlanddeutscher, also ich habe sowohl deutsche als auch russische Vorfahren, und lebe schon länger in Deutschland.«, ergänze ich meine Antwort, als ob ich mich dafür rechtfertigen würde, dass ich in Russland aufgewachsen bin.

In der Zwischenzeit kommt ein langer Güterzug mit ein paar leeren Waggons auf dem Gleis gegenüber an und bleibt stehen.

»Vielleicht können wir fragen, wohin der Güterzug fährt, vielleicht kann er uns mitnehmen, falls er in dieselbe Richtung fährt?«, wundert sich Anna laut.

Ich lache und sage, dass ich an sich nicht so abenteuerfreudig bin, aber hörte, dass Jelzin in seiner Jugend so manchmal gereist haben soll.

Meine Anmerkung bringt Lächeln auf ihr Gesicht, das weiterhin nur Zuversichtlichkeit ausstrahlt. Wir machen uns auf den Weg zum Kopf des Güterzuges.

Während wir jetzt mehr sprechen, höre ich nun auch ihre ukrainische Mundart deutlicher und mutmaße, dass sie aus der Westukraine stammt.

Bald rührt sich auch der Güterzug und wir verstehen, dass auch aus dieser Idee nichts wird, und kehren zurück.

»Ich will nach Hause, in die Ukraine.«, wiederholt sie, »Es gibt hier nichts, was wir nicht haben. Wenn du einen beliebigen Ukrainer fragst, ob er etwas in Deutschland bewundert, etwas, was er in seiner Heimat vermisste, so etwas gibt es nicht.«

Tatsächlich ist ein fremdes Land manchmal wie ein Wunder, wo alles blüht und gedeiht, wo es alles im Übermaß gibt, und es den Menschen an nichts fehlt. Aber gelegentlich erlebst du einen Abend, an dem du auf einer U-Bahn-Station aussteigst und alles dir Angst macht. Die Menschen sind merkwürdig gekleidet und werfen böse Blicke in deine Richtung. Du gehst zitternd an ihnen vorbei, schaust nach unten, auf den schmutzigen Boden, und befürchtest, dass sie dich ansprechen. Dein Herz beginnt zu rasen und du fragst dich, ob es nur ein Alptraum ist, oder, ob alles davor ein Traum war.

Anna unterbricht meinen Versuch, mich in ihre Gefühle einzufühlen: »Ich bin schon beinahe zurückgegangen, aber dann fiel eine Rakete auf ein Kinderkrankenhaus. Hast du davon gehört?«

Ich nicke.

»Das ist nicht weit von meinem Zuhause entfernt. Teile vom Krankenhaus sind gestürzt, und Menschen haben sich in eine Schlange gestellt, und räumten selbst die Steine, um den Weg freizulegen und andere zu retten.«

»Ja, bei großen Überschwemmungen kommen auch hier Leute aus ganz Deutschland, um zu helfen, weil die Regierung nicht rechtzeitig reagiert.«, sage ich, um hinzuweisen, dass Menschen in Not überall gleich handeln.

»Siehst du? auf wen soll man warten?«, stellt sie die rhetorische Frage.

»Du bist aus Kiew?«

»Ja. Ich frage immer ganz besorgt meine Mutter, wie sie dort mit meinem kleinen Bruder lebt. Aber meine Mutter schenkt dem Geschehen nicht mehr so viel Aufmerksamkeit. „Als ob ständig Motorräder durch den Himmel fahren würden“«, zitiert sie ihre Mutter lachend, »Es gibt verschiedene Stufen von Alarm-Signalen. Bei stärkerem Beschuss gehen Menschen in den Keller und kommen danach zurück.«

Menschen leben ihr Leben weiter. Auch unter grausamen Bedingungen. Es gibt nur weniges, woran sich der Mensch nicht gewöhnt. Der Rest geht in den Alltag über. Ich erinnerte mich an Berichte aus der Ostukraine aus der Zeit des Bürgerkrieges, bevor die russische Armee einmarschiert ist. Wohngebiete unter Beschuss, aber Menschen stehen jeden Tag auf, Erwachsene gehen zur Arbeit, Kinder — zur Schule.

Ich höre Anna aufmerksam und mit Interesse zu und vermeide Beurteilungen und Suche nach Schuldigen. Auch Anna scheint dieses Themengebiet nicht anfassen zu wollen. Es ist möglicherweise die Angst, dass es unser Gespräch in einen sinnlosen Streit verwandeln würde. Bei näherem Betrachten, welche Rolle spielt das? Ich bin am bewaffneten Konflikt zwischen Russland und der Ukraine nicht Schuld. Sie ist es auch nicht. Sie hat nur Heimweh und will ihr Leben zurück haben.

»Kannst du vielleicht den Taxi-Dienst anrufen und fragen, ob die Fahrt verschoben werden kann?«, hat Anna mich gebeten.

Sie hat die Telefonnummer des Taxi-Unternehmens rausgesucht. Ich habe mehrmals versucht, konnte aber niemanden erreichen. Während ich wartete, dass jemand ans Telefon geht, haben wir angefangen über unser Alter zu sprechen. Ich bin fast 15 Jahre älter als sie.

»Du siehst 7 Jahre jünger aus als du bist.«, sagt sie mir, nachdem ich ihr Alter beim zweiten Versuch richtig raten konnte.

»Eltern sagen öfters, dass wir für sie immer klein, immer Kinder bleiben. Aber auch sie bleiben in meiner Erinnerung im selben Alter, vielleicht 40–50 Jahre alt, im Alter, in dem ich sie als Kind kannte.« Ich erzähle das und gebe mir dabei die Mühe, nicht zu ernst zu sein, weil ich nicht weiß, ob sie meine Aussage absurd findet oder das ähnlich wie ich empfindet. »Vielleicht altern wir heutzutage nicht so schnell, weil das Leben nicht mehr so hart ist.«

»Ich habe einen Freund, 25 Jahre alt. Er ist, naja…«, sie macht eine kurze Pause, »er hat militärischen Hintergrund. Er ist plötzlich und rasch viel älter geworden, machte den Eindruck, sehr erschöpft zu sein.«

Es gibt eine andere Dimension des Alterns. Man hört gelegentlich, dass manch ein Mensch einfach nicht erwachsen wird. Nur sein Körper wird älter. Aber auch hier gibt es Unterschiede. Die einen handeln kindisch, die anderen haben die Seele eines Kindes; eine Seele, die verzeihen kann, die keine Angst hat zu vertrauen und zu lieben. Hat Christus nicht gesagt, dass das Himmelreich den Kindern gehört?

Und es gibt Menschen, die alt geboren werden. Schon in frühen Jahren lernen sie, dass alles Weltliche vergeht, dass jede Freundschaft und jede große Liebe ein Ende haben. Dass man sich auf die Worte seines Gegenübers niemals verlassen kann, denn süße Worte wie Zucker auf der Zunge zergehen und nur einen Nachgeschmack aus unreinen Absichten hinterlassen.

»Wann ist der Krieg schon endlich zu Ende?«, sagt Anna traurig.

»In der Tat. Kriege enden leider nicht. Kaum endet der eine, beginnt irgendwo ein anderer. Sie sind die treuesten Begleiter der Menschengeschichte, genauso wie Krankheiten und Hunger.«

»Ich habe gehört, dass der Krieg bald endet. Aber manche sagen, dass, wenn er endet, in 10 Jahren ein neuer beginnt. Die anderen behaupten wiederum, dass es zu einem dritten Weltkrieg kommt.«

Ich habe nicht verstanden, ob nach 10 Jahren der Ukraine-Konflikt sich erneut entfachen soll, oder, ob sie allgemein Kriege meint. Im letzteren Falle wären 10 Jahre sehr großzügig. »Die Lage ist weltweit sehr angespannt, und es gibt mehrere Regionen, wo es jederzeit zu bewaffneten Auseinandersetzungen kommen kann, die wiederum das Potenzial haben, die halbe Welt in Brand zu setzen.«

Abgehobene Wahrheiten, die Frage nach dem Übel in der Welt und die globale geopolitische Lage scheinen sie nicht des Atems zu berauben. Sie wolle nach Kiew.

Ab einem bestimmten Moment lief die Zeit schneller. Wir mussten uns immer wieder ein neues Gesprächsthema überlegen, und Themenwechsel wurde immer wieder von größeren Pausen begleitet. Dann kam schon der Zug, auf den wir sehnsüchtig gewartet haben. Anna konnte ihr Handy aufladen und ihre Bekannte kontaktieren, die sie mit Auto von Bahnhof abholen sollten. Das hat sich also geregelt.

Im Zug sprachen wir über unsere Berufe und Freizeitbeschäftigungen, über Kleidergeschäfte und Technik, über dies und jenes.

Als die Zeit kam, haben wir uns voneinander verabschiedet und einander eine gute Wieterfahrt gewünscht, und sie stieg aus. Ich blieb sitzen und schaute nicht zur Tür zurück.

Im nächsten Zug, in dem ich meine Fahrt fortführte, befand sich eine Gruppe der Menschen, die untereinander gemischt Russisch und Ukrainisch gesprochen haben. Als wir uns der Haltestelle näherten, haben sie sich überlegt, wie sie den Rollstuhl eines ihrer Kollegen durch den engen Gang im Zug zur Tür durchbringen können.

»Was ist mit ihm geschehen? Unfall? etwas anderes?«, fragte ein Einheimischer ein Mädchen aus der Gruppe.

»Ich weiß es nicht.«

»Seid ihr nicht alle zusammen?«

»Oh nein, wir haben uns erst hier getroffen. Ja, ich glaube, es war ein Unfall.«