Technikkonzept von Ernst Kapp

Technik als Herausforderung für die Philosophie

Eines der wichtigsten Merkmale unserer Zeit ist die Technisierung vieler Bereiche unseres alltäglichen Lebens. „Das technische Zeitalter“ kann man über unsere Tage sagen hören. Als solche ist die Technik nichts Neues, wenn auch die Technik des letzten Jahrhunderts ganz anderer Art, als das, was man vorher kannte, ist. Es gibt sie dennoch mehr als hundert Jahre, vielleicht gab es sie schon immer. Vielleicht ist die Fähigkeit, aus der Natur Erkenntnisse zu gewinnen und dann anhand derer etwas zu erfinden, etwas was einen Menschen eigentlich ausmacht.

Desto interessanter wird es, über die Technik und Technisierung nachzudenken. Was ist sie nun? Die Frage nach der Technik ist eine philosophische Frage, weil es vor allem die Philosophie ist, die nach der Washeit der Dinge und der Möglichkeitsbedingungen fragt: Was ist der Mensch? Was macht einen Menschen aus? Was ist und warum eigentlich Technik, was macht sie möglich?

Die philosophische Natur ist auch aus der Überlegung einsehbar, dass viele Fragen, die mit der Technik verbunden sind, gar nicht durch das technische Denken selbst beantwortbar sind, sondern einer Reflexion bedürfen, die über das Technische hinausgeht. Selbst wenn jemand behaupten würde, dass die Technik nur aus sich heraus erklärt werden könne und müsse und keine weitere Rechtfertigung oder Würdigung nötig habe, wäre das eine Behautpung, die die Grenzen des Technischen überschreitet.

Zwar begleiten die technischen Erfindungen den Menschen schon seine ganze Geschichte, angefangen mit einem Schlagstein, der als Prototyp für einen Hammer diente, über die Dampfmaschine, den Telegrafen, bis zu Rechenmaschinen und Computern, hat man erst vor kurzem angefangen über die Technik systematisch nachzudenken. Das mag daran liegen, dass die technische Entwicklung seit der Industrialisierung ganz neue Maßstäbe angenommen hat. Eines der ersten Werke, das sich ausführlich mit dem Wesen der Technik beschäftigt, ist wohl „Grundlinien einer Philosophie der Technik“ von Ernst Kapp aus dem Jahre 1877, „sein bis heute als grundlegendes Werk der Technikphilosophie geltendes Buch“1.

140 Jahre sind seit dem Erscheinen des Buches vergangen und die Entwicklung bleibt nicht stehen. Und überhaupt ist die rasche Entwicklung eines der wichtigsten Merkmale der heutigen Technisierung. Ältere Leute haben oft Probleme mit dem Bedienen des Computers oder Handys, weil sie in einem ganz anderen Umfeld aufgewachsen sind und das „Checken der E-Mails“ und die Abgabe der Steuererklärung online ihnen fremd ist. Selbst Menschen, die sich beruflich mit den modernen Technologien beschäftigen, können die technische Entwicklung nicht mehr einholen. In 90er-Jahren gab es noch den Begriff „Webmaster“. Ein Webmaster befasste sich mit der Entwicklung, Gestaltung, Verwaltung von Websites. Heute wird der Begriff kaum noch verwendet. Stattdessen gibt es Frontend- und Backend-Programmierer, Designer, SEO-Spezialisten (Search Engine Optimization — Suchmaschinenoptimierung), Server-Administratoren. Man spricht noch vom „Full-stack developer“, darunter wird aber jemand verstanden, der sowohl die Frontend- als auch Backend-Programmierung macht, es ist jedoch keineswegs der alles könnende Webmaster. Die Fülle an Technologien und Aufgaben hat zur Spezialisierung und Auskristallisierung neuer Berufsfelder geführt. Und dieser Prozess fand innerhalb einer Generation statt.

Auf der anderen Seite beschäftigt sich die Philosophie in meinem Verständnis mit den ewigen Fragen. Die Umstände, der Kenntnisstand ändern sich, aber die Fragen nach dem, was das Sein ist, was die Erkenntnis zu leisten vermag, wie der Mensch zu handeln hat, bleiben. Es wäre also nicht uninteressant zu schauen, ob unsere Vorstellung von der Technik sich in hundert Jahren kardinal gewandelt hat, oder ob Kapp zu Erkenntnissen gelangte, die auch noch für uns und vielleicht unsere Nachfahren nicht von einer bloß geschichtlichen Bedeutung sind.

Kapp hat sein Werk so aufgebaut, dass er mit primitiven Werkzeugen anfängt und sich dann immer weiter zu komplexeren Strukturen und Artefakten hocharbeitet. Dabei greift er fast in jedem Kapitel auf ein Produkt aus der Geschichte der Technik, an dem er versucht, seine These plausibel zu machen. Ich wähle eine ähnliche Vorgehensweise und werde mich bemühen, spätere Werke der Menschenhand im Lichte Kapps Auffassung des Menschen und der Technik zu betrachten. Zunächst muss allerdings jene Auffassung kurz dargestellt werden.

Technikkonzept von Ernst Kapp

Noch steht die Menschheit in den Kinderschuhen ihrer Kultur oder in den Anfängen der technischen Gleise, die sich der Geist selbst zu seinem Voranschreiten zu legen hat.2

Technik und Kultur

„Grundlinien einer Philosophie der Technik“ hat noch einen Untertitel: „Zur Entstehungsgeschichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten“. Die Technik ist also nicht bloß ein Mittel zum Zweck, sie hat etwas mit der Entstehung der Kultur zu tun. Wenn man bedenkt, dass die Kultur ein Werk des menschlichen Schaffens ist, ist es auch verständlich, dass die Technik ein Teil der Kultur ist. Technische Artefakte haben ihre eigene Geschichte und sie haben schon immer die Lebensweise der Menschen stark beeinflusst. Man denke nur an den Buchdruck, der viel mehr Menschen den Zugang zu Büchern ermöglichte, dadurch, dass die aufwendige Arbeit des Abschreibens von Maschinen ersetzt werden konnte. Kapps Überzeugung ist aber, dass die Technik nicht ein Aspekt der Kultur ist, sondern, dass sie konstituierend für das Entstehen der Kultur ist: „Der Anfang der Herstellung technischer Gegenstände ist der Beginn des Kulturwesens Mensch.“3

Wie ist das zu verstehen? Klaus Kornwachs stellt erstmal fest, dass der Umgang mit der Technik nicht von der Technik selbst vollständig determiniert ist, sondern dass „verschiedene Nationen und verschiedene Kulturkreise unterschiedlich mit Technik umgehen und unterschiedliche Techniklinien und Organisationsformen hervorgebracht und zuweilen auch wieder aufgelöst haben“4.

Die Technik wird dadurch ermöglicht, dass der Mensch die Gesetze der Natur sich zunutze machen kann. Die physikalischen Gesetze sind aber für alle gleich. Wie kommt es, dass verschiedene Zivilisationen nicht die gleiche Technik bauen oder, dass sie die gleiche Technik nicht auf dieselbe Weise nutzen? Um diese Frage zu beantworten, macht Kornwachs die Unterscheidung zwischen zwei Arten technologischer Funktionalität. Die technologische Funktionalität der ersten Art ist diejenige, „deren physikalische Wirksamkeit und technische Brauchbarkeit invariant gegenüber der kulturellen Ausprägung der organisatorischen Hülle sind“5. Als Beispiele nennt Kornwachs Regelkreise, Hebel, Kraftmaschinen usw.6 Was ist die organisatorische Hülle? „Die organisatorische Hülle einer Technik umfasst alle Organisationsformen, die notwendig sind, um die Funktionalität eines technischen Artifakts überhaupt ins Werk setzen zu können“7. Eben so eine organisatorische Hülle „konstituiert eine technologische Funktion zweiter Art, […]“8 Kornwachs erklärt diese am Beispiel eines Autos, dessen „organisatorische Hülle das gesamte System vom Straßenverkehrsnetz über die Proliferationssysteme für Treibstoff und Ersatzteile bis hin zu den rechtlichen Regelungen, […], [umfasst]“9.

Aber nicht nur die organisatorische Hülle regelt, wie die Technik eingesetzt wird; auch die Technik prägt die organisatorischen Hüllen: „Es ist offenkundig, dass die organisatorische Umgestaltung unserer Zivilisation durch die Informations- und Kommunikationstechnologien keine dieser organisatorischen Hüllen unberührt lässt.“10

Die Kernthese der „Grundlinien einer Philosophie der Technik“ ist, dass es sich bei allen technischen Gegenständen um die Projektion menschlicher Organe handelt. Selbst wenn der Mensch keine tiefen Erkenntnisse über den Bau seines Körpers hat, projiziert er ihn unbewusst in die von ihm gemachten Artefakte, „[i]st demnach der Vorderarm mit zur Faust geballter Hand oder mit deren Verstärkung durch einen fassbaren Stein der natürliche Hammer, so ist der Stein mit einem Holzstiel dessen einfachste künstliche Nachbildung“.11 Es ist nicht ungewöhnlich, zwischen der Technik und den menschlichen Organen und zwischen der Funktionsweise der Technik und derselben des Organismus Analogien zu bilden. Genauso wie den Vorderarm mit zur Faust geballter Hand kann man mit einem Hammer vergleichen, kann man zum Beispiel den Computer mit dem Gehirn vergleichen, weil die Computer viele Operationen wie das Rechnen sogar viel effizienter als das menschliche Gehirn durchführen können. Bei Kapp geht es aber nicht nur um Ähnlichkeiten und Analogien. Vielmehr behauptet er, dass die Menschen ihren Organismus und seine Funktionen in die Technik projizieren, sodass wenn der Organismus anders aufgebaut wäre, anders funktionieren würde, würde auch die Technik ganz anders aussehen. Und das beansprucht er für alle technischen Gegenstände ausnahmslos.12

Selbsterkenntnis

Die Organprojektion ist nicht nur der Gegenstand der Technikphilosophie, sondern auch der Erkenntnistheorie. Die Produktion der Artefakte ist die Art und Weise, wie der Mensch die Natur und sich selbst erkennt. Da der Mensch seinen Organismus in die Technik projiziert und die Technik demzufolge Merkmale dieses Organismus hat, kann er aus der von ihm erschaffenen Technik sich selbst erkennen. Ein Hammer sieht nicht nur äußerlich dem Arm ähnlich, er hat auch strukturelle Ähnlichkeiten mit diesem. Ein Hammer besteht aus zwei Teilen: einem Stiel und einem Kopf. Der untere Teil des Armes besteht genauso aus dem Unterarm, an den die Hand angeschlossen ist. In der Technik erkennt man dann wieder die Eigenschaften, die man in sie projiziert hat und erkennt auf diese Weise sich selbst. „Zentrum und Ziel allen Weltgeschehens ist in Kapps Denken die stetig sich vergrößernde Selbsterkenntnis des Menschen. Die technischen Artefakte sind Vehikel dieser Selbsterkenntnis: […].“13

So wird der Mensch zum „Maß der Dinge“14, weil alles, was er in die Welt setzt, aus ihm selbst entsprungen ist. Es gibt auch keine andere Quelle der Erkenntnis als der Mensch selbst.15

Die Welt der Technik leitet demnach einen Selbstreflexionsprozeß ein, da sie zum einen bestimmte Entwicklungsstufe des Menschen erfahrbar mache, zum anderen jedoch auch auf das verweise, was den Menschen möglich sei.16

Eine andere Komponente, die die Selbsterkenntnis kennzeichnet, ist die Sprache, weil „[d]ie Sprache sagt, welche Dinge sind und was sie sind, […]“17. Und sie ist auch ein Produkt der Organprojektion. Kapp behauptet, dass die Bezeichnungen für die Gegenstände aus der Tätigkeit der Organe entstanden seien. So habe das Wort Mühle seine Wurzel im indoeuropäischen mal oder mar, was soviel wie „mit den Fingern zerreiben“ oder „mit den Zähnen zermalmen“ bedeutet habe.18

Terminus „Technik“

Hier wird es deutlich, dass es Kapp nicht bloß um den Einfluss der Technik auf die Kultur geht, vielmehr ist die Technik dasjenige, was die gesamte menschliche Kultur bildet. „Die Technik ist das erste Kulturereignis. Der Anfang der Herstellung technischer Gegenstände ist der Beginn des Kulturwesens Mensch.“19

Um diese These zu verstehen, muss man untersuchen, was Kapp meint, wenn er das Wort „Technik“ verwendet. Mit der Entwicklung der Technik entwickelt sie auch die Sprache. Wenn ich heute „Technik“ sage, dann meine ich meistens Computertechnik oder zumindest irgendeine Maschine, ein Auto, ein Lüftungssystem und dergleichen. Wenn ich über Werkzeuge in meinem Werkzeugkasten spreche, dann sage ich nicht unbedingt „Technik“ von jenen, es sei denn ich habe elektrische Werkzeuge da, wie ein Elektroschrauber oder eine Bohrmaschine. Es mag eine Zeit gegeben haben, in der eine Handsäge eine technische Errungenschaft darstellte. Heute gehört sie aber mehr zur Klasse der Werkzeuge. Das heißt man unterscheidet meistens in der heutigen Umgangssprache zwischen der Technik und den Werkzeugen.

Es ist überhaupt schwierig, eine Definition der Technik zu entwickeln, die man verwenden könnte, um zwischen technischen Gegenständen und übrigen zu differenzieren. Ich habe vorher von den von Menschenhand geschaffenen Gegenständen als von der Technik gesprochen. Aber zählt ein gemaltes Bild zur Technik? Wohl eher nicht. Es ist Kunst. Ist ein technischer Gegenstand keine Kunst? Man würde meinen: Nein. Der Ingenieur, der Monate verbracht hat, es zu entwerfen und zu konzipieren, könnte dem widersprechen. Die Technik hat noch eine weitere Eigenschaft, dass sie einen Nutzen hat. Allerdings auch die Kunst hat für viele Menschen einen ästhetischen Nutzen. Man kann den „Begriff“ auf die eine oder andere Weise definieren, aber eine solche Definition wäre meines Erachtens der Umgangssprache nicht gerecht und würde nicht alle Anwendungsfälle decken.

Wenn man zu diesem Begriff von einer anderen Seite kommt, kann man zwischen zwei Bedeutungen dessen unterscheiden. Zu einem bezeichnet man Gegenstände als Technik: ein Videorecorder ist Technik, ein Fernseher ist Technik. Zum anderen spricht man von erlernten Fähigkeiten als von den Techniken. In diesem Sinne gibt es Maltechniken, Kampftechniken, Lerntechniken und andere Techniken. Der Begriff hat also noch eine funktionale Seite.

Kapp hat diese Vielfalt des Technischen in seine Philosophie aufgenommen. Es war vorhin davon die Rede, dass der Mensch seinen Organismus in die Technik projiziert, und bei den ersten Werkzeugen sieht man gewisse Ähnlichkeit mit den Organen. Aber auch der Umstand, dass die Technik mit einer Funktion verbunden ist (dass sie eine Fähigkeit bezeichnen kann), ist ihm nicht entgangen. „An die Stelle der Ähnlichkeit, welche die äußere Gestalt der Organe des Menschen mit deren gegenständlichen Projekten besitzt, tritt im Fortgang der Entwicklung technischer Gegenstände bis hin zur Maschine vielmehr die Projektion des organischen Funktionsbildes, […]“20 Man hat versucht Kapps Theorie zu widerlegen, indem man nach Artefakten gesucht hat, die keine Ähnlichkeiten mit irgendeinem Organ aufweisen: das Rad21 oder das künstliche Licht22.

Das war auch für Kapp offensichtlich, dass nicht alle Werkzeuge und Maschinen äußere Ähnlichkeiten aufweisen. Vielmehr entfernt sich die Technik im Prozess ihrer Entwicklung von ihrem ursprünglichen Vorbild. Kapp spricht zum Beispiel von „vergeistigten“ Werkzeugen, die eher den menschlichen Geist projizieren als seinen Körper. So heißt es von dem Werkzeug der Kommunikation, der Sprache:

In der Sprache hört der Unterschied von Kunstwerk und Werkzeug, der sonst durchweg feststeht, ganz auf. Indem sie erklärt, was sie selbst ist, übt sie gerade das aus, was sie erklären will. Mithin ist sie das Werkzeug, sich als ihr eigenes Werkzeug zu begreifen, also ein vergeistigtes Werkzeug, Spitze und Vermittlung zugleich der absoluten Selbstproduktion des Menschen.23

Die „Spitze“ der Organprojektion sind gar nicht die technischen Artefakte, sondern der gesamte kulturelle Reichtum, den der Mensch um sich schafft. Nur ist diese kulturelle Bereicherung ohne Technik nicht möglich. Außer dass Kapp verschiedene Bedeutungen der Technik in seine Theorie aufnimmt, breitet er diesen Begriff so weit aus, dass er auf jegliche Errungenschaft das Menschen angewendet werden kann. Solche Verwendung des Begriffes „Technik“ mag zunächst befremdend erscheinen, aber sie ist unserer Sprache auch nicht vollkommen fremd, denn wir instrumentalisieren auch geistige Prozesse und sprechen von der Sprache als dem Werkzeug der Kommunikation oder der Logik als dem Werkzeug des Denkens.

Kapps Menschenbild

Zwar projiziert sich der Mensch immer in die Technik, aber dieser Prozess wird nie abgeschlossen. Es gibt immer eine unendliche Kluft zwischen der Natur und dem Mechanismus.

[…]; der Mechanismus, durch Zusammensetzung von außen zustande gebracht, ist eine „Mache“ der Menschenhand. Der Organismus ist wie die gesamte Welt natura, ein Werdendes, der Mechanismus ist das gemachte Fertige; dort ist Entwicklung und Leben, hier Komposition und Lebloses.24

Kapp ist kein Materialist und der Mensch ist für ihn kein rein materielles Wesen. Anstatt von der Materie und dem Geist zu sprechen, spricht Kapp von der Psychologie und der Physiologie, zwei Gegensätze, die die menschliche Natur in sich vereinigt. Allerdings ist auch keine Trennung dieser zwei Bestandteile möglich. Man kann auch nicht sagen, dass das eine wichtiger oder wesentlicher wäre als das andere, wie es zum Beispiel Descartes sieht25. Der Mensch ist nur als ein Ganzes möglich und denkbar: „Psychologie und Physiologie haben lange genug fremd gegen einander getan, […]“26. Auch das kulturelle Gut und die Technik sind nicht sekundär, obwohl es auf den ersten Blick scheint, als ob die menschliche Existenz auch ohne diese denkbar wäre, weil sie erst ein Produkt seiner geistigen Aktivität sind. „Einerseits sollen die natürlichen Organe das Vorbild aller mechanischen Objekte und Ensembles sein, andererseits lässt sich erst durch deren Strukturen und Funktionen das Wesen der Organe erkennen.“27

Kritik

Ganz am Anfang klingt Kapps Theorie sehr plausibel. Bei einfachen Werkzeugen kann man das sich sehr gut vorstellen, dass der Mensch seine Organe als Muster für die Werkzeuge benutzt hat. Vor allem, weil die eigene körperliche Kraft nicht ausgereicht hat, musste man einen Weg finden, zu kompensieren, anders gesagt, man musste seine natürlichen Organe verlängern und verstärken.

Allerdings mit dem Fortschritt der Technologie, wenn die direkte Analogie zwischen dem Organ und dem Produkt der Menschenhand zu schwanken beginnt, fällt es einem immer schwerer, an die Organprojektion als eine universelle Theorie zu glauben.

Es liegt in der Natur des Menschen, seine Umwelt immer weiter zu gestalten, und seine Werkzeuge und Maschinen weiter zu entwickeln. Und auch schwere Maschinen helfen dem Menschen, schwere Arbeiten auszuführen, die er sonst mit seinen eigenen Organen verrichten sollte. Deswegen können auch sie als Projektion menschlicher Organe und ihrer Funktionen betrachtet werden. Allerdings wenn Kapp Beispiele wie „[d]as Netz der Blutgefäße als organisches Vorbild des Eisenbahnsystems“28 einführt, stellt sich die Frage, wie es zu überprüfen ist. Kapp zwar besteht darauf, dass es nicht bloß das „Sinnbildliche der Allegorie“ ist, sondern das „Sach- und Abbildliche der Projektion“29 und versucht das argumentativ zu stützen30, seine Argumentation kann jedoch nicht als ein handfester Beweis gelten.

Die Hauptschwäche dieser Theorie ist ihre Überprüfbarkeit. Ich kann höchstens auf bestimmte Ereignisse oder Artefakte hinweisen und sie zum Vorteile der Theorie deuten, aber meine Behauptung lässt sich nicht empirisch überprüfen. Ich kann nur versuchen sie plausibler als die Alternativen zu machen. Vor allem geschieht die Organprojektion nach Kapp unbewusst und weist sich erst im Nachhinein als solche aus. Und um den Ursprung und die Art unbewusster geistiger Vorgänge lässt sich nur spekulieren.

Des Weiteren war Kapp auf die Technik seiner Zeit beschränkt. Er konnte selbstverständlich nicht voraussehen, welche Herausforderungen die künftige Technik mit sich bringt, und ob die Theorie entsprechend angepasst werden soll. Der Glaube an den Menschen als ein einzigartiges Geschöpf der Natur wird immer schwächer. Vielleicht ist er gar nicht so einzigartig, vielleicht kann man ihn nachbauen, vielleicht kann man das, was in seinem Kopf vorgeht, auf eine Reihe von Algorithmen reduzieren. Immer mehr Menschen glauben, dass es sehr bald möglich sein wird. Für Kapp war der Mensch noch der einzige Schöpfer seiner Technik:

Niemals ist aber bei irgendeiner Maschine die Menschenhand völlig aus dem Spiele; denn auch da wo ein Teil des Mechanismus sich gänzlich ablöst, wie der Pfeil, die Gewehrkugel, die dem Schiffbrüchigen die rettende Leine überbringende Rakete, ist die Abweichung nur vorübergehend und scheinbar.31

Die Technik, die immer menschlicher wird, macht darüber nachdenklich, ob der Mensch diesen Status für die gesamte Zeit seiner Geschichte behalten kann. Andererseits das Sprechen über die Maschinen, die man von einem Menschen nicht mehr unterscheiden kann, ist auch nur noch eine Spekulation. Und es ist meines Erachtens noch zu früh, sie als ein Argument gegen Kapps Ansichten auszuspielen. Schließlich hat auch die höchste entwickelte Technik ihren Ursprung im Menschen und ist Folge seiner Leistung, wie es Kapp auch sagt. Das heißt, wenn eine Maschine ohne menschliche Teilnahme andere Maschinen produzieren kann, so wurde sie so konstruiert, um diese Aufgabe zu erfüllen. Es wird inzwischen über die Maschinen spekuliert, die auch geistige Leistungen des Menschen übernehmen können, die zum Beispiel selbst programmieren können, und so andere Maschinen hervorbringen, die nicht nur nach einem bestimmten Plan konstruiert sind, sondern tatsächlich neue Technik darstellen. Aber selbst in diesem Fall soll solche Intelligenz erstmal künstlich geschaffen werden, sie würde ihre Existenz immer noch dem Menschen verdanken. Das ist, denke ich, die Tatsache, auf die Kapp hinweisen wollte.

Man darf auch nicht vergessen, dass obwohl wir Technik bauen und verwenden, darüber zu reflektieren, warum wir sie eigentlich brauchen und warum wir so bauen, wie wir sie bauen, keine einfache Aufgabe ist, die lückenlos gelöst werden kann. Deswegen verdient Kapps Theorie Aufmerksamkeit als ein möglicher Lösungsansatz.

Kapps Technikphilosophie in Anwendung auf die nachfolgende Geschichte der Technik

Das Kapitel, in dem Harald Leinenbach über die Rezeptionsgeschichte der Organprojektionstheorie spricht, nennt er „Die Grundlinien einer Philosophie der Technik“ „Kapps mystisches Blendwerk“32, womit er andeuten will, wie das Werk meistens rezipiert wurde. „Dabei finden sich Erwähnungen der Organprojetionstheorie meist bloß in knappen Randbemerkungen. Kapps Technikphilosophie ist nirgends aufgenommen, geschweige denn konstruktiv weitergeführt worden.“33 Als Grund gibt Leinenbach an, dass Kapp von seinen Gegnern immer missverstanden wurde, dass man seine Theorie nicht zu Ende denkt, sondern sich „hauptsächlich am Organprojektionsstatus der technischen Gegenstände“34 aufhält, und sobald man eine Maschine findet, die äußerlich dem menschlichen Organismus nicht ähnlich ist, hört man auf und lehnt die Theorie als unzureichend ab. Dazu kommen noch Begriffe wie das Unbewusste, mit denen Kapp gearbeitet hat.35 Besonders in der Zeit, in der die Künstliche Intelligenz entwickelt wird, scheint die Hoffnung zu wachsen, das Unbewusste aus der Welt zu schaffen, und alles Menschliche ohne Rest technisch reproduzieren zu können.

Fohler, Susanne, Techniktheorien: Der Platz der Dinge in der Welt des Menschen. München 2003.
Kapp, Ernst, Grundlinien einer Philosophie der Technik: Zur Entstehungsgeschichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten; herausgegeben von Harun Maye und Leander Scholz. Hamburg 2015.
Kornwachs, Klaus, Philosophie der Technik: Eine Einführung. München 2013.
Korte, Eduard, Kulturphilosophie und Anthropologie: Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund Ernst Kapps. Hamburg 1992.
Leinenbach, Harald, Die Körperlichkeit der Technik: Zur Organprojektionstheorie Ernst Kapps. Essen 1990.
Maye, Harun/Scholz, Leander, Einleitung, in: Harun Maye/Leander Scholz (Hgg.), Grundlinien einer Philosophie der Technik: Zur Entstehungsgeschichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten. Hamburg 2015, VII–XLIV.

  1. H. Maye/L. Scholz, Einleitung, in: H. Maye/L. Scholz (Hgg.), Grundlinien einer Philosophie der Technik: Zur Entstehungsgeschichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten, Hamburg 2015, VII–XLIV, VIII.↩︎

  2. E. Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik: Zur Entstehungsgeschichte der Kultur aus neuen Gesichtspunkten, hg. von H. Maye und L. Scholz, Hamburg 2015, 309.↩︎

  3. H. Leinenbach, Die Körperlichkeit der Technik: Zur Organprojektionstheorie Ernst Kapps, Essen 1990, 7.↩︎

  4. K. Kornwachs, Philosophie der Technik: Eine Einführung, München 2013, 22.↩︎

  5. Ebd.↩︎

  6. Vgl. ebd.↩︎

  7. Ebd. 23.↩︎

  8. Ebd.↩︎

  9. Ebd.↩︎

  10. Ebd.↩︎

  11. Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik, 52.↩︎

  12. Vgl. Leinenbach, Die Körperlichkeit der Technik, 7.↩︎

  13. S. Fohler, Techniktheorien: Der Platz der Dinge in der Welt des Menschen, München 2003, 36.↩︎

  14. Vgl. Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik, 73.↩︎

  15. Vgl. ebd.↩︎

  16. E. Korte, Kulturphilosophie und Anthropologie: Zum geistesgeschichtlichen Hintergrund Ernst Kapps, Hamburg 1992, 10.↩︎

  17. Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik, 60.↩︎

  18. Vgl. ebd. 57.↩︎

  19. Leinenbach, Die Körperlichkeit der Technik, 7.↩︎

  20. Ebd. 61.↩︎

  21. Vgl. ebd. 84–86.↩︎

  22. Vgl. ebd. 88.↩︎

  23. Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik, 248.↩︎

  24. Ebd. 68.↩︎

  25. Vgl. geschichte1718?.↩︎

  26. Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik, 19.↩︎

  27. Maye/Scholz, Einleitung, XXXV-XXXVI.↩︎

  28. Kapp, Grundlinien einer Philosophie der Technik, 121.↩︎

  29. Vgl. ebd. 129.↩︎

  30. Vgl. ebd. 129–130.↩︎

  31. Ebd. 64.↩︎

  32. Leinenbach, Die Körperlichkeit der Technik, 60.↩︎

  33. Ebd. 61.↩︎

  34. Ebd. 60.↩︎

  35. Vgl. ebd. 64.↩︎