Gegenständliche Erkenntnis bei Simon L. Frank
Einleitung
Heiße Magister, heiße Doktor gar,
Und ziehe schon an die zehen Jahr’
Herauf, herab und quer und krumm
Meine Schüler an der Nase herum —
Und sehe, daß wir nichts wissen können!
Faust I
Johann Wolfgang von Goethe1
In der Tat, können wir etwas wissen, etwas erkennen? Seit der Entstehung der Menschheit wunderte man sich über die Welt, die einen umgibt. Man fragte sich, wie die Umwelt funktioniert, was hinter den natürlichen Ereignissen steht, suchte nach Gesetzmäßigkeiten und legte auf diese Weise den ersten Grundstein für das Gebäude der Physik. Dieses Projekt war jedoch anscheinend so komplex, dass manche Philosophen sich wenige Jahrhunderte später die Ansicht aneigneten, dass es überhaupt keine Wahrheit, sondern nur Schein und Täuschung gebe. Durch Grübelei und Diskutieren gelangte man schließlich zum Zentrum seines Daseins, zu seinem Selbst, und stellte sich nun die Frage: „Was bin ich? Habe ich zumindest eine sichere Erkenntnis, dass es mich selbst tatsächlich gibt, oder bin ich auch ein bloßer Schein, eine Selbsttäuschung?“
Die so für den gemeinen Menschen merkwürdige Frage nach der Sicherheit menschlicher Erkenntnis wurde im letzten Jahrundert nicht nur durch vielfältige philosophische Spekulationen, sondern auch durch die modernen Naturwissenschaften noch stärker verschärft, wobei philosophische Spekulationen in gewisser Hinsicht wichtiger sind, weil, wenn die Naturwissenschaften mit den Sinnesdaten arbeiten und die Existenz der Außenwelt einfach voraussetzen, der Philosoph keine solche Voraussetzungen machen darf. Er steigt eine Ebene tiefer ein und fragt, ob es überhaupt möglich ist, solche Sinnesdaten zu gewinnen.
Unter den zahlreichen Versuchen, dieses erkenntnistheoretische Problem zu entschlüsseln, verdient der Lösungsweg, den Simon L. Frank beschritten hat, eine besondere Aufmerksamkeit. Bevor ich aber zur Darlegung Franks Erkenntnistheorie übergehe, möchte ich genauer auf die Frage eingehen: Was ist eigentlich so rätselhaft an unserer Erkenntnis?
Wie weit geht der Zweifel?
René Descartes, der nach Arthur Schopenhauer „mit Recht für den Vater der neuern Philosophie“2 gilt, wollte bekanntlich vor allem ein festes Fundament für seine Philosophie legen.3 Als erste Regel, die ihn von Abgründen des Nichts-Wissens zu wahren Erkenntnissen leiten sollte, war, nichts in sein Wissen aufzunehmen, „als was sich so klar und deutlich darbot, dass ich keinen Anlass hatte, es in Zweifel zu ziehen.“4 Die materielle Welt fiel aus dieser Kategorie gleich aus: Es könnte ja sein, dass ich sie nur träume, dass es sie aber nicht gibt. Das ist das problematische Moment der gegenständlichen Erkenntnis. Sie ist außer uns, aber alles, was wir haben, sind unser Gehirn und unsere Sinnesorgane. Wenn sie uns täuschen, dann haben wir ein völlig verkehrtes Weltbild, ohne das jemals zu merken oder merken zu können.
Gibt es aber etwas, was nicht bezweifelt werden kann? Descartes bejaht diese Frage: „Aber gleich darauf bemerkte ich, daß, während ich so denken wollte, alles sei falsch, es sich notwendig so verhalten müsse, daß ich, der dies dachte, etwas war.“5 Nun fühlt man festen Boden unter den Füßen. Wenn ich auch an allem zweifeln kann, dann doch nicht daran, dass es mich selbst gibt, dass ich denke und zweifle. Ferner definiert Descartes den Menschen als denkende Substanz, res cogitans6, die Wladimir Solowjew seinerseits als „einen unzweifelhaften Mischling“7 bezeichnet, weil jener dem Subjekt das zuschreibe, was ihm nicht mit Sicherheit gehöre. Alles Reden über das Ich ist kein Reden über das Ich, sondern das Reden über Etwas. Wenn wir über das Subjekt reden, vergegenständlichen wir dieses, machen es zu einem Objekt, was gleichzeitig alle Probleme gegenständlicher Erkenntnis auf das Subjekt überträgt. Descartes weist zum Beispiel darauf hin, dass die Gedankenwelt eines Traumes niemals so evident und vollständig wie diese der Realität sei.8 Wie kann man zu diesem Schluss kommen? Man vergleicht das Realitätsbewusstsein mit demjenigen eines Traumes, was allerdings gar nicht in die umgekehrte Richtung geht: Im Traum gelten andere Gesetze, die in diesem Moment unvergleichbare Evidenz und Vollständigkeit haben. Wenn ich also eine zweite Realität annehme und ich nur das Produkt eines Traumes eines Anderen bin, dann sind die Gedankengänge meiner Wirklichkeit genauso lächerlich und absurd für die zweite Realität.
Natürlich gibt es einen Kern, denn ich bin doch etwas (wenn auch nur ein Traumgebild oder ein Produkt der Natur, das sich einbildet, etwas frei denken zu können), aber man kann diesen Kern kaum benennen. Solowjew unterscheidet deswegen zwischen dem reinen und empirischen Subjekt. Jenes ist sicher und unerschütterlich, da es uns auf dem unmittelbarsten Wege gegeben ist, aber leer (wie ein mathematischer Punkt), dieses erfüllt und bunt, weil es die ganze Persönlichkeit enthält, dennoch wackelig und grundlos.9 Und so verhält es sich in diesem Model mit allem Sein überhaupt.
Hiermit stehen dem Skeptizismus alle Türe offen, weil, wenn man das Sein radikal und bis zum Ende, als etwas, was dem Erkennenden gegenüber steht, denkt, das Maximum, was man mit Sicherheit weiß, ist, dass man in irgendeiner Weise existiert. Alle anderen Erkenntnisse stehen unter Verdacht, nicht objektiv zu sein. Die große Frage wäre also, ob man diese Kluft zwischen dem Subjekt und Objekt überbrücken kann.
Zwei Hauptaspekte der Erkenntnislehre
Das von mir oben geschilderte Problem ist als Transzendenzproblem bekannt. Frank unterteilt es in zwei Fragen, wovon eine relativ einfach und in verschiedenen Systemen im Prinzip gelöst, die andere dagegen schwieriger sei und oft außer Acht gelassen werde.10 Einerseits handelt es sich darum, zu erklären, wie das Subjekt das gegenständliche Sein, also das Transzendente, wirklich erfassen kann. Andererseits stellt sich die Frage: Was bedeutet dieses gegenständliche Sein überhaupt, woher wissen wir, dass es etwas von unserem Bewusstsein Unabhängiges, permanent Existierendes gibt?11
Es ist kein Zufall, dass Frank im Bezug auf das Transzendenzproblem nicht nur über unser Verhältnis zum Sein spricht, sondern auch über das Sein selbst, was streng genommen keine Aufgabe der Erkenntnistheorie ist, sondern die der Ontologie. In seinem Aufsatz „Die Krise der modernen Philosophie“ hat Frank darauf hingewiesen, dass Kant (und mit ihm die moderne Philosophie) jeder Ontologie eine Erkenntnistheorie vorgeordnet sieht.12 Das Erkennen geht ja von uns aus. Wir haben ein gewisses Vermögen, das uns ermöglicht, verschiedene Inhalte in uns aufzunehmen. Deswegen ist das Reflektieren über dieses Vermögen das Grundlegendste, was es geben kann. Auch wenn wir über das Sein nachdenken, tun wir das vermittels dieses Vermögens. Es dreht sich also alles um die Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis und die Wissenschaft, die diese Bedingung erforscht, wenn sie tatsächlich gründlich sein will, muss selbst bedingungslos sein, das heißt sich auf keine vorgefasste Ontologie stützen.13 Frank mit seinem scharfen Sinn für das Sein (und nicht nur für die abstrakte Begrifflichkeit) tritt dieser Einstellung entgegen und dreht das Verhältnis von Ontologie und Erkenntnistheorie um: Wird es denn nicht angenommen, dass es einerseits den Erkennenden und andererseits das gegenständliche Sein gibt? Die Spaltung in Objekt und Subjekt ist somit nichts Anderes als eine ontologische Voraussetzung. Die Erkenntnistheorie muss zum Bewusstsein kommen, dass sie selbst Ontologie ist und anders gar nicht gedacht werden kann, sie soll „eine offene und richtige Ontologie“ sein und „sich von jenem […] fehlerhaften circulus vitiosus befreien, in dem einzelne, abgeleitete Daten eines begrenzten Seinsgebiets die logische Grundlage für die Beurteilung des seins im ganzen waren.“14
Wenn man nun die scheinbare Grenzlinie zwischen dem Subjekt und Objekt aufhebt, gelangt man auch schon zur Lösung des ersten Teils des Transzendenzproblems. Das Bewusstsein ist eben nicht etwas in sich Geschlossenes, das auf eine unbekannte Weise affiziert wird und nur verzerrte Bilder der Wirklichkeit in sich aufnimmt, sondern es steht immer mitten im Sein und richtet seinen Blick auf die Gegenstände. Frank vergleicht den Erkenntnisprozess mit der Wirkung einer Lampe, die aus sich selbst „hinausgeht“ und ihr Licht auf die Dinge wirft. Das menschliche Bewusstsein ist seinem Wesen nach ein Lichtstrahl, der seine Grenzen transzendiert und so seine Umgebung beleuchtet.15
Das Transzendente als unmittelbar Gegebenes
Frank gibt sich mit dem Erreichten nicht zufrieden und untersucht genauer, soweit es möglich ist, die Seinsstrukturen und das Interagieren des menschlichen Bewusstseins mit den anderen Teilaspekten des Seins.
Am Anfang bin ich durch systematischen Zweifel, der bei der objektiven Wirklichkeit ansetzt und zum Innersten des Subjekts führt, zum Ergebnis gelangt, dass es unbedingt etwas geben muss. Man kann nur dieses „Etwas“ nicht als res cogitans oder mit einem anderen Begriff bezeichnen, was gleichsam Vergegenständlichung bedeuten würde. Es entkommt jeder Definition. Es ist ein Punkt, etwas unendlich Kleines, weil es nichts Definierbares in sich enthält und unendlich Großes, weil es nichts außer sich selbst kennt. Man kann auch nicht von Dauer sprechen. Die Vergangenheit und die Zukunft sind uns nicht unmittelbar gegeben. Die Zukunft gibt es im Moment noch gar nicht und seine Vergangenheit kann man rekonstruiren, auch wenn diese Rekonstruktion nicht im Geringsten der Wahrheit entspricht, ohne dabei die Absicht zu lügen zu haben16. Es lebt nur in diesem konkreten Moment. Es wäre ein Nichts, wenn es nicht ein „Etwas“ wäre, „es ist ein Sein schlechthin“17. Es ist primär und unmittelbar evident. Alles Andere, Denken, Bewusstsein, sind im Vergleich dazu sekundär, sie müssen ja erst sein, also an einem Sein teilhaben. Frank betont nochmal ausdrücklich, dass das Subjekt kein Träger vom Sein ist, sondern, dass es das Getragene ist, es haftet selbst am Sein, dass alles in sich vereinigt18.
Es ist also gelungen, etwas Evidentes, Unleugbares zu finden, und es annähernd zu beschreiben. Es scheint jedoch zu sein, dass man an dieser Stelle auch bleiben muss, weil es sich nichts mehr findet, was genauso selbstevident und dem Menschen unmittelbar gegeben wäre. Im nächsten Schritt kritisiert Frank aber die Meinung, dass die Selbstevidenz, unmittelbare Gegebenheit und Immanenz unbedingt zusammenfallen. Es ist überhaupt ein Merkmal unseres Denkens, dass wir ein Ding nie einzeln denken können. Was ist zum Beispiel die Gegenwart? Die Gegenwart wird als eine Grenzlinie zwischen Vergangenheit und Zukunft vorgestellt. Genauso kann man nur auf dem Hintergrund dessen, was die Gegenwart ist, verstehen, was die Zukunft ist. Dasselbe gilt selbstverständlich auch für die Vergangenheit. Alle drei Begriffe stehen in einer Relation zueinander und können unabhängig voneinander gar nicht gedacht werden. Wenn es keine Zukunft und keine Vergangenheit gegeben hätte, dann hätte man auch keine Vorstellung von der Gegenwart. Wenn man genauer hinschaut, dann erblickt man, dass es sich ähnlich auch mit allen anderen Dingen verhält, auch mit räumlichen Gegenständen. Wenn ich einen roten Fleck sehe und sage, dass der Fleck rot ist, bringe ich ihn in Beziehung mit allen anderen Gegenständen, die vielleicht grün, schwarz oder weiß sind. Wie hätte ich die Röte wahrnehmen können, wenn es keine anderen Farben gegeben hätte?19
Zu einem Inhalt A kommt notwendig ein anderer Inhalt, non-A, hinzu, der dem A nicht immanent, sondern transzendent ist und mit ihm in einer Verbindung steht. Nicht nur Immanentes ist uns evident und unmittelbar gegeben, es ist nicht mal das Primäre, weil es nur im Zusammenhang mit dem Transzendenten gedacht werden kann, als Teil eines Ganzen, das folglich auch ist. Dieses non-A ist kein Gegenstand unserer Erkenntnis in dieser Sekunde, weil unser Blick auf den Inhalt A gerichtet ist, non-A ist uns verborgen, aber trotzdem als solches gegeben.20 Demzufolge kann man auch das Sein nicht als einen nur in diesem Moment existierenden, mathematischen Punkt deuten. Dieser Moment setzt einen anderen voraus und ein Punkt setzt eine unendliche Seinsfülle voraus, der er zugehört.
Das ist die Antwort, die Frank auf die zweite Teilfrage des Transzendenzproblems gibt. Es gibt Sein, das nicht gegenständlich ist, sondern das eine Einheit vom Subjekt und dem gegenständlichen Sein darstellt. Alles, was ist, partizipiert an ihm, wodurch eine Verbindung zwischen den Teilen des Seins, zwischen Subjekt und Objekt gewährleistet wird.
Das mitgedachte Unbekannte
Das Moment des Unbekannten, des Verborgenen spielt auch eine große Rolle im Erkenntnisprozess. Frank untersucht ein synthetisches Urteil der Form „S ist P“. Wenn S als eine Begriffsbestimmtheit gedacht wird, kann S nach dem Widerspruchsprinzip kein P sein, weil S ein S ist. Wenn man „S ist P“ sagt, meint man dann wohl etwas Anderes. „Unter S wird aber tatsächlich zweierlei zugleich gedacht: einerseits eine Begriffsbestimmtheit A, die sich eben mit der Bestimmtheit B, die das Wesen des Prädikats ausmacht, verbindet […]“.21 Andererseits hat unsere Erkenntnis nur Sinn, wenn sie auf etwas Unbekanntes ausgerichtet ist, und es ist, wie es oben gezeigt wurde, tatsächlich so, dass das Unbekannte immer mitgedacht wird. „Wäre die Realität auf das jeweils Erkannte beschränkt, würde fortschreitendes Erkennen darin bestehen, daß ein neuer Wissensinhalt den anderen ablöst. Dieser Vorgang […] würde der Dynamik des Erkenntnisvorgangs nicht entsprechen.“22 Also muss S auch etwas Unbestimmtes enthalten, es ist das überbegriffliche Ganze, in dem wir im Urteil die Bestimmtheit B erkennen. Frank schließt daraus, dass die eigentliche Form des Urteils sei23. Wobei dieses X nicht etwas an sich Unerkennbares ist, Frank bezeichnet es mit dem Wort „Bestimmtheitskomplex“24. Dieser Komplex ist unabhängig von uns vorhanden und bestimmt, aber nicht von uns erkannt. Bei der Erkenntnis hat man nicht nur mit den Erkenntnisinhalten zu tun, sondern auch mit dem Unbekannten, mit der Inhaltsfülle des Gegenstandes selbst. Die Zweieinheit von Subjekt und Prädikat im Urteil kann nicht zufällig sein und ist nicht sekundär, weil es dann schwer zu erklären wäre, wie es überhaupt zu dieser Kopula kommt,25 muss also im Sein verankert sein und die Einheit vom Gegenstand und dem Erkenntnisinhalt widerspiegeln.
Intuitive und begriffliche Erkenntnis
Die nächste Frage, der Frank sich widmet, ist, wie dieses Abbilden des Gegenstandes, also dieses Gewinnen des Erkenntnisinhaltes, überhaupt möglich ist, weil man den Erkenntnisinhalt nicht mit dem Inhalt des Gegenstandes selbst verwechseln darf. Unsere Urteile können auch falsch sein. Der Wahrheitswert unserer Erkenntnisse wird auf irgendeine Weise am Inhalt des Gegenstandes gemessen. Um ein Abbild zu machen, muss man aber den Gegenstand bereits besitzen, was jedoch zufolge hätte, dass ein Abbild überflüssig wäre, und wenn man ihn nicht besitzt, dann ist es einfach nicht möglich so ein Abbild anzufertigen, weil man das Original nicht hat.26
Als Ausgangspunkt nimmt Frank das Schlussprinzip (A B) und die logische Regel modus ponens (A B; nun ist A, also ist auch B), weil es dem Vorgehen unserer Erkenntnis entspricht: Aus einem bereits bekannten A wird B gefolgert. Die Überlegungen, die Frank hier anstellt, sind im Wesentlichen ähnlich der Untersuchung des synthetischen Urteils der Form „A ist B“. A ist eben A und kann keine „Informationen“ über B enthalten, also muss es eine primäre Einheit AB geben, die die Möglichkeit des Schlusses begründet. Die Schlussfolgerung darf aber in diesem Fall nicht als eine Summe von A und B gedacht werden, sonst wäre es keine wirkliche Schlussfolgerung, sondern die beiden Teile würden uns unmittelbar gegeben. Das Ganze ist in diesem Fall viel mehr eine Potenz, sodass die Bestimmtheit A sich zunächst auskristallisiert und danach aus dem vom Ganzen gebliebenen Rest B gebildet wird.27
Da es unendlich viele Bestimmtheiten gibt, muss es einen Bereich geben, der alles Gedachte und Erkennbare überhaupt umfasst. Allerdings können die logischen Denkgesetze (Kategorie der Identität und Unterschiedes, der Satz des ausgeschlossenen Dritten) nicht als Verbindungsglied zwischen den als fertig gegeben gedachten Bestimmtheiten gedacht werden. Das führt zu Tautologien und Widersprüchen. Biespielsweise besagt die Identität, dass ist, wobei die Identität das Vorhandensein eines zweiten A eigentlich ausschließt. Der Satz des ausgeschlossenen Dritten besagt: Alles Denkbare ist entweder A oder non-A und ein Drittes ist nicht gegeben. „Alles Denkbare“ ist aber ein Drittes, weil es sowohl A als auch non-A enthalten kann. Und die Möglichkeit dieses Dritten wird im Satz geleugnet. Wäre ein Drittes in der Tat ausgechlossen, wäre der Satz gar nicht denkbar, weil „alles Denkbare“ nur eins von beidem wäre.28 Dagegen sind die Denkgesetze die Möglichkeitsbedingungen, „auf Grund deren die begriffliche Bestimmtheit überhaupt (also ein A und ein non-A) erst entsteht.“29 So wird alles Denkbare zunächst als eine Einheit gedacht (Identitätsprinzip), dann wird von allem Anderen abgehoben (Underschiedsprinzip) so, dass es sich „eindeutig als ein »Solches«, ein genau bestimmtes, einzigartiges »Quale« konstituiert“30 (Satz des ausgeschlossenen Dritten).
Hier nähern wir uns einem Gebiet an, das nicht nach logischen Gesetzmäßigkeiten funktoniert, sondern sie erst begründet. Dieses Gebiet ist deswegen metalogisch. Frank bezeichnet darum die Beziehung zwischen der primären Einheit und dem System der Bestimmtheiten als „metalogische Ähnlichkeit“31, sie haben die gleichen Inhalte, aber unterschiedliche Seinsgrade. Aus dem Vorhandensein dieser zwei Ebenen, die das Sein jeweils auf eigene Art und Weise abbilden, leitet Frank die Existenz auch einer zweiten Erkenntnisart, ab, der intuitiven Erkenntnis, die grundlegend für die begriffliche ist, da die erstere das Material für die letztere aus der überbegrifflichen Alleinheit liefert.32
Die intuitive Erkenntnis hat das Erlebnis zu ihrem Ansatzpunkt. Das Erlebte ist zunächst ein X, etwas vollkommen Unbekanntes und es wird nicht nur durch das Gehalt dieses Erlebnisses bestimmt, sondern dieses Unbekannte wird in einem Zusammenhang mit dem Ganzen des Seins erkannt, als dessen Teilmoment, was objektive Erkenntnis möglich macht, weil dieses Ganze keine amorphe Masse ist, sondern „konkrete Einheit der Mannigfaltigkeit“33. Die intuitive Erkenntnis dient nicht nur als Grundlage für die begriffliche Erkenntnis, sondern sie ist auch dem Gegenstand selbst mehr adäquat, weil die Teilaspekte des Seins intuitiv als ein Ganzes gefasst werden, was der Einheit des Seins mehr entspricht. Die Entsprechung ist aber wiederum kein Original. Man könnte unsere Erkenntnis (jeder Art) mit einem malerischen Werk vergleichen. Man kann eine Gegend sehr gut auf einem Blatt Papier darstellen, die Deminsionen können anhand bestimmter Techniken nachgemacht werden, sie sind aber trotzdem nicht da, sondern nur in der Natur selbst. Dazu muss noch gesagt werden, dass ein Kunstwerk natürlich zeitlos ist, ihm fehlt der Atem, der die lebendige Natur bis in die letzte Tiefe durchdringt.34
Im Gegensatz zur intuitiven Erkenntnisweise hat die begriffliche Erkenntnis einen negativen Charakter, weil A durch die Verneinung alles Anderen bestimmt wird, A steht immer in einer Relation zu non-A, welches als „der unendliche dunkle Rest“35 übrig bleibt. Eine Bestimmtheit A ist immer eine Abspaltung, eine gewisse Verarmung im Vergleich zur primären Einheit „A + non-A“ und trotzdem verliert die begriffliche Erkenntnis nicht an Bedeutung. Zwar ist sie relativ „tot“, sie greift Daten aus der Seinsfülle heraus und macht sie zu einem starren System, doch ist das menschliche Intuitionsvermögen auch nicht im Stande das Sein in seinem ganzen Umfang zu fassen. Beide Erkenntnisarten vervollsändigen einander. Die begriffliche Erkenntnis hilft das Sein auseinanderzunehmen und auf diese Weise es genauer zu untersuchen. Nur die Kooperation der beiden Erkenntnisarten macht es möglich die Mannigfaltigkeit und die Einheit des Seins für den erkennenden Menschen in ein Gleichgewicht zu bringen.36
Wissendes Erleben
Simon Frank hat uns ziemlich nah an das Sein herangeführt (genauer gesagt an die bewusste Schau des Seins). Und doch ist dieses Sein vor unseren Augen unbeweglich, grob, blass. Frank führt das Beispiel eines Apfels an, dessen Begriff oder das vollkommenste intuitive Erfassen uns jedoch nicht sättigen können.37 Der Unterschied zwischen einem Apfel als Gegenstand und einem Begriff ist die „Idealität“, die Frank mit der Zeitlosigkeit, die ich bereits kurz angesprochen habe, gleichsetzt. Hier kehren wir wieder zum Anfang, da wo ich im Zusammenhang mit dem Zweifel geschrieben habe, dass alles, was zum Gegenstand menschliches Denkens (oder auch intuitives Anschauens) werden kann, wird vergegenständlicht, „[a]us dem zeitlichen Geschehen wird dadurch eine ewig-unbewegliche Wahrheit“38. Das gilt sowohl für abstraktes Denken als auch für normales Geschehen. Dieses Zeitlose kann nicht das Primäre sein aus dem einfachen Grund, dass das Zeitlose immer in einer Relation mit dem Zeitlichen steht. Das wahre Absolute ist nicht relativ zu etwas, es schließt Relatives ein, ohne es aufzulösen. Es kann auch nicht zeitlos sein, sondern überzeitlich. Erst aus dem Überzeitlichen entwickeln sich diese zwei Gegensätze: Zeitloses und Zeitliches.39
Gibt es eine Möglichkeit den „Apfel des Seins“ nicht nur begrifflich zu erkennen und intutiv anzuschauen, sondern ihn auch zu kosten? Jede gegenständliche Erkenntnis ist nur ein Abbild, das deswegen nicht dem Gegenstand selbst adäquat ist, sondern höchstens etwas über ihn sagt. Frank wählt für diesen Fall den Begriff „cognitio circa rem“ anstatt von „cognitio Wenn ein Lebewesen in sich tatsächlich geschlossen wäre, wäre eine wahre Erkenntnis in der Tat nicht möglich, weil man sich dann nur mit Abbildungen der Wirklichkeit begnügen sollte. Es wurde jedoch gezeigt, dass der Mensch auf diese Weise nicht denkbar ist. Er ist vielmehr — wie alles andere Seiende auch — vom Sein durchdrungen. Der Mensch geht über sich hinaus, weil in ihm sich das manifistiert, was weit über die Grenzen seines eigenen menschlichen Wesens fließt und die ganze Realität mit sich füllt. Die Erfahrung der Manifestation des Seins in uns macht man im Erleben, das immer ein wissendes Erleben ist. Frank macht an dieser Stelle eine strenge Unterscheidung zwsichen der dunklen Irrationalität des unmittelbaren Lebens und der überrationalen Fülle der Lebensintuition, die „helles inneres Erleuchten“40 ist.
In ihm, im Erleben, in dem das Sein sich selbst uns offenbart, wurzelt die intuitive Erkenntnis und allein dadurch wird die gegenständliche Erkenntnis möglich.
Literaturverzeichnis
J.W. von Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, Husum/Nordsee 2012, 15.↩︎
A. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena: kleine philosophische Schriften, von Arthur Schopenhauer., hg. von C. Schmölders, F. Senn und G. Haffmans, Bd. 1, Zürich 1977, 11.↩︎
R. Descartes, Discours de la Méthode, hg. und übers. von C. Wohlers, Hamburg 2011, 23f.↩︎
ebd. 33.↩︎
ebd. 57.↩︎
Vgl. E. Coreth/H. Schöndorf, Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart; Berlin; Köln 32000, 43.↩︎
W. Solowjew, Theoretische Philosophie (übers. von W. Szylkarski), in: W. Szylkarski (Hg.), Erkenntnislehre. Ästhetik. Philosophie der Liebe, Bd. 7, Freiburg im Breisgau 1953, 40. Zur Kritik Descartes denkender Substanz siehe den kompletten ersten Aufsatz aus „Theoretische Philosophie“ im genannten Band.↩︎
Vgl. Descartes, Discours de la Méthode, 69–71.↩︎
Vgl. Solowjew, Theoretische Philosophie, 51.↩︎
Vgl. S.L. Frank, Erkenntnis und Sein. I. Das Transzendenzproblem (übers. von V. Ammer und P. Ehlen), in: Lebendiges Wissen: Aufsätze zur Philosophie, München 2013, 161–191, 166f.↩︎
Vgl. ebd. 168.↩︎
Vgl. S.L. Frank, Die Krise der modernen Philosophie (übers. von V. Ammer und P. Ehlen), in: Lebendiges Wissen: Aufsätze zur Philosophie, München 2013, 47–55, 48.↩︎
Vgl. ebd.↩︎
ebd. 50.↩︎
Vgl. Frank, Erkenntnis und Sein. I. Das Transzendenzproblem, 167.↩︎
Juristen sind so genannte Knallzeugen bekannt, die vor Gericht in allen Einzelheiten etwas beschreiben können, was sie gar nicht gesehen haben, sondern erst im Moment des Ereignisses (beispielsweise eines Autounfalls) darauf aufmerksam geworden sind. Die Widersprüchlichkeit seiner Aussagen wird so einem Zeugen nicht bewusst. (Vgl. J. Zeh/G.M. Oswald, Aufgedrängte Bereicherung: Tübinger Poetik-Dozentur 2010, hg. von D.K. und Philipp Alexander Ostrowicz und A.-S. Michalski, Künzelsau 12011, 17)↩︎
Frank, Erkenntnis und Sein. I. Das Transzendenzproblem, 178.↩︎
Vgl. ebd.↩︎
Vgl. P. Ehlen, Zur Ontologie und Anthropologie Simon L. Franks, in: Die Realität und der Mensch: Eine Metaphysik des menschlichen Seins, München 2004, 26f.↩︎
Vgl. Frank, Erkenntnis und Sein. I. Das Transzendenzproblem, 179ff.↩︎
ebd. 170.↩︎
Ehlen, Zur Ontologie und Anthropologie Simon L. Franks, 25.↩︎
Vgl. Frank, Erkenntnis und Sein. I. Das Transzendenzproblem, 171.↩︎
ebd.↩︎
Vgl. ebd. 170.↩︎
Vgl. S.L. Frank, Erkenntnis und Sein. II. Die metalogischen Grundlagen der begrifflichen Erkenntnis (übers. von V. Ammer und P. Ehlen), in: Lebendiges Wissen: Aufsätze zur Philosophie, München 2013, 192–222, 193.↩︎
Vgl. ebd. 194–197.↩︎
Vgl. ebd. 198.↩︎
Vgl. ebd. 198f.↩︎
ebd. 199.↩︎
ebd. 200.↩︎
Vgl. ebd. 201.↩︎
ebd. 203.↩︎
Vgl. ebd. 210f.↩︎
ebd. 205.↩︎
Vgl. ebd. 206.↩︎
Vgl. ebd. 210.↩︎
ebd. 211.↩︎
Vgl. ebd. 213.↩︎
Vgl. ebd. 219.↩︎