Zur Bedeutung der Kunst bei Friedrich Nietzsche. Teil 4. Abschließende Bemerkungen
Eigentlich sollte ich einen Kreis von tiefen und zarten Menschen um mich haben, welche mich etwas vor mir selber schützten und mich auch zu erheitern wüßten: denn für einen, der solche Dinge denkt, wie ich sie denken muß, ist die Gefahr immer ganz in der Nähe, daß er sich selber zerstört.
Herbst 1885 – Frühjahr 1886
Friedrich Nietzsche1
Der Welt, aus der die Wissenschaft die Geistigkeit vertrieben hat, die genauso wie ihr Gott „getötet“ und zu einem physischen Mechanismus gemacht wurde, schenkt Friedrich Nietzsche ein neues Leben, neue Dynamik, die Dynamik eines Kunstwerkes, das noch nicht vollendet ist und niemals vollendet sein wird. Seine Theorie von der ästhetischen Rechtfertigung des Lebens hat er in die Praxis umgesetzt, er komponierte sein schriftliches Werk: „Sie hätte singen sollen, diese ‚neue Seele‘ — und nicht reden!“,2 klagt er im „Versuch einer Selbstkritik“ darüber, dass er nicht gewagt hat, in seinem Erstlingswerk „als Dichter“3 zu sprechen. Und Wiebrecht Ries bemerkt, dass in der „Zarathustra-Dichtung“ erfüllt ist, „daß die Rede Musik wird, und dies in gleicher Weise wie der Gedanke Seele wird.“4 Nietzsches Leben wurde wie eine Tragödie aus dem Geiste der Musik, die ihn sein Leben lang inspirierte,5 geboren.
„Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik“ vernichtet Nietzsches Karriere, weil die Behauptungen wie, dass die Existenz nur eine „Theateraufführung“ im Bewusstsein eines mythischen Wesens, „provozierend gemeint [sind], aber sie […] einen unbeabsichtigten Zweifel an der Nüchternheit und Zuverlässigkeit des Autors als humanistischen Gelehrten“6 provozieren. „Die Wahrheit ist häßlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grunde gehn.“,7 heißt es 1888. Dennoch geht er an der dionysischen Wahrheit zu Grunde und erleidet einen Zusammenbruch.8 „Das Finale im Wahnsinn verlieh dem Werk rückwirkend eine dunkle Wahrheit: da war offenbar jemand ins Geheimnis des Seins so tief eingedrungen, daß er darüber den Verstand verloren hatte.“9 Nietzsches Schwester Elisabeth, die noch zu Lebenszeiten seines Bruders alle Rechte auf seine Werke bekommen hat, hat sich nach seinem Zusammenbruch um die Ausgabe seiner Schriften gekümmert10 und ein Nietzsche-Archiv eröffnet.11 Bereits 1893 war die Nachfrage nach Nietzsches Büchern „sprunghaft angestiegen“.12
Also hat die dionysische Selbstzerstörung eines Philosophie-Künstlers etwas Neues hervorgebracht: sein Werk.
F. Nietzsche, Die nachgelassenen Fragmente. Eine Auswahl, hg. von G. Wohlfart, Stuttgart 1996, 170.↩︎
F. Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, in: G. Colli/M. Montinari (Hgg.), Friedrich Nietzsche: Kritische Studienausgabe, Bd. 1, München 21999, 15.↩︎
ebd.↩︎
W. Ries, Nietzsche für Anfänger. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Eine Lese-Einführung von Wiebrecht Ries, München 1999, 138.↩︎
Vgl. ebd. 18.↩︎
R. Hayman, Friedrich Nietzsche: Der mißbrauchte Philosoph, übers. von E. von Kleist, München 1985, 187.↩︎
Nietzsche, Die nachgelassenen Fragmente. Eine Auswahl, 279.↩︎
Vgl. Hayman, Friedrich Nietzsche, 439.↩︎
R. Safranski, Nietzsche: Biographie seines Denkens, München; Wien 2000, 331.↩︎
Vgl. Hayman, Friedrich Nietzsche, 537 f.↩︎
ebd. 454.↩︎
ebd.↩︎